Über Egoismus, Faulheit und falsche Glaubenssätze
Achtsamkeit - also erstmal wertfrei wahrzunehmen, was jetzt da ist - spricht zahlreiche Menschen spontan an. Sich selbst besser spüren, im eigenen Leben wirklich anwesend sein und nicht im Autopilot - wie in Trance - durch den Alltag schweben, ist vielen eine Sehnsucht.
Im Laufe eines Achtsamkeitskurses rückt bei den Teilnehmenden dann oft noch etwas anderes in den Vordergrund:
Nicht nur wertfrei wahrzunehmen, sondern eine freundliche, wohlwollende Haltung allen Erfahrungen gegenüber zu entwickeln - und auch sich selbst.
Die große Sorge: Werde ich egoistisch?
Und nicht selten taucht irgendwann in den Gruppen die Frage auf:
Wenn ich mir selbst gegenüber wirklich eine uneingeschränkt freundliche und wohlwollende Haltung entwickle - werde ich dann nicht egoistisch? Und faul?
Diese Gedanken tauchen auch in meinem Kopf ab und an auf. Zum Beispiel, wenn das Gröbste im Haushalt gemacht und die wichtigsten Mails beantwortet sind und ich mich für einen Moment mit einem Snack aufs Sofa setze und die Füße hochlege. Ich atme durch, spüre, wie die Schultern sich senken und der Kiefer sich löst. Und dann schleicht er sich ein, dieser leise Gedanke: „Sollte ich nicht besser noch...?“
Gefolgt von einer ganzen Parade an Aufgaben, die augenscheinlich wichtiger sind als eine Pause.
Kennst du das auch? Lasst uns das mal gemeinsam anschauen!
Also: Atme durch, lass die Schultern sinken und den Kiefer weicher werden - und wir steigen ein. 🙂
Was uns der Dalai Lama über Selbstkritik lehrt
Es gibt eine Anekdote, die Sharon Salzberg (eine bekannte amerikanische Meditationslehrerin) vom Dalai Lama erzählt:
Vor vielen Jahren fragte sie ihn auf einer Konferenz, wie er mit Selbstkritik umgehen würde. Der Dalai Lama verstand den Begriff zunächst gar nicht, denn im Tibetischen gibt es kein Wort dafür. (!)
Nach einigem Hin und Her mit seinem Übersetzer, als er den Begriff schließlich greifen konnte, war er verblüfft:
„Wer hier im Raum kennt das, sich selbst zu kritisieren?“
Alle Anwesenden - westliche Therapeut:innen, Wissenschaftler:innen und Meditationslehrer:innen – hoben die Hand.
Diese Anekdote zeigt so schön, dass das Verhältnis, das wir zu uns selbst haben, stark kulturell geprägt ist.
Warum wir Selbstkritik für produktiv halten
Wir haben gelernt, dass Selbstkritik produktiv ist - und Selbstmitgefühl verdächtig.
Kein Wunder, dass der Gedanke, freundlich zu uns selbst zu sein und für uns einzustehen, uns misstrauisch macht.
Weil vielen Menschen ein tief verankertes Gefühl der Zugehörigkeit fehlt (Grüße gehen raus an die individualistisch-kapitalistische Gesellschaft 👋🏻), leben viele von uns mit einer ständigen - oft unbewussten - Angst, zu versagen oder nicht gut genug zu sein.
Also entwickeln wir Strategien:
Wir strengen uns an, passen uns an, funktionieren.
Und wenn die Erschöpfung kommt, helfen Medien, Konsum, Essen und Co., um den Schmerz zu vergessen.
Und deshalb ist es ganz verständlich, dass in einem Achtsamkeitskurs für viele Menschen diese - wenig hilfreichen - Strategien langsam ans Licht kommen. Und es gleichzeitig so schwerfällt, sie loszulassen.
Erkennst du dich wieder?
Vielleicht kennst du auch einige davon?
Gehst du oft über deine Grenzen, stellst deine Werte, Überzeugungen oder körperlichen und emotionalen Bedürfnisse hinten an, um anderen zu helfen oder zu gefallen?
Hast du eine ausgeprägte innere kritische Stimme entwickelt, die dich vermeintlich davor beschützt, egoistisch oder faul zu sein? Die dir aber regelmäßig körperliche Anspannung und schlaflose Nächte beschert?
Vielleicht weißt du manchmal gar nicht mehr, was du selbst eigentlich brauchst oder möchtest?
Vielleicht fühlt sich ein Teil von dir auch von ganzem Herzen zugehörig zur Welt und weiß, dass du dich nicht beweisen musst und Fehler machen darfst. Das wäre schön.
Und vermutlich gibt es im Alltag trotzdem immer wieder Momente, in denen du hart zu dir selbst bist und ein Teil von dir - so wie bei meinen Kursteilnehmenden fragt:
„Dieses ganze Achtsamkeitszeug, sich selbst eine gute Freundin sein - macht mich das nicht doch irgendwie faul und egoistisch?“
Meine Erfahrung: Das Gegenteil ist der Fall
Es mag in seltenen Fällen stimmen, aber die Stimme, die “faul” und “egoistisch” als falsch bewertet, ist meist dieselbe, die uns schon so lange antreibt.
Ich kann die Frage übrigens nicht abschließend beantworten, aber meine Erfahrung zeigt genau das Gegenteil (die Forschung bislang übrigens auch!).
Wie du es selbst herausfinden kannst
Und… ich lade dich ein, das für dich selbst herauszufinden!
Zum Beispiel so:
Für deine Meditationspraxis: Wenn du eine formelle Meditationspraxis hast, versuche mal, an den Schluss noch eine Sequenz zu hängen, in der du Verbundenheit mit der Welt und Freundlichkeit dir selbst gegenüber übst. Zum Beispiel mit guten Wünschen für dich und andere oder indem du dir über den Atem die Verbundenheit mit allen anderen Lebewesen bewusst machst.
Die Selbstmitgefühlspause für den Alltag: Auch außerhalb einer formellen Praxis kannst du das üben, zum Beispiel mit der Selbstmitgefühlspause nach Dr. Kristin Neff.
Das sind drei Sätze - ähnlich wie ein Mantra - die du in schwierigen Momenten innerlich wiederholst.
Am besten übst du sie in ganz alltäglichen Situationen ein, z. B. wenn morgens der Wecker klingelt, aber du noch nicht aufstehen magst.
Der erste Satz erkennt an, dass das - jetzt gerade - eine schwierige Situation ist (Achtsamkeit).
Der zweite Satz erinnert dich daran, dass du damit nicht alleine bist (geteilte Menschlichkeit).
Der dritte Satz ist ein guter Wunsch für dich selbst (Freundlichkeit).
Foto: Giulia Bertelli
Mein persönliches Mantra
Mein persönliches Mantra lautet:
„Dies ist ein Moment des Leidens (selten auch mal: „Was für eine verflixte Sch*“).
Leiden ist Teil des Lebens.
Möge ich freundlich zu mir sein.“
Eine Alternative wäre:
Das hier ist gerade sehr schwierig / herausfordernd.
Alle Menschen erleben das mal; ich bin damit nicht alleine.
Ich möchte gut auf mich achten / gut für mich da sein / freundlich zu mir sein.
Wenn du mehr zum Thema lesen möchtest, empfehle ich dir folgende Texte:
👉🏻 Mitfühlend werden und entspannter leben (Interview mit Prof. Dr. Tania Singer)
👉🏻 Neurowissenschaftlerin Dr. Olga Klimecki im Interview über Mitgefühl
👉🏻 The Self-Hatred Within Us (Sharon Salzberg, On Being Blog)