Die bewusste Wahl der Aufmerksamkeit

Die Türen schließen sich hinter mir. Der Aufzug fährt langsam nach oben und bleibt stehen. Die Tür beginnt zu ruckeln. Einen Millimeter vor, einen Millimeter zurück.

Klick, klick.

Klick, klick.

Ich stecke fest.

Das ist jetzt ein Scherz, oder?

Keine zwanzig Minuten zuvor hatte ich meinen Achtsamkeitskurs mit den Worten beendet:

Wir können lernen, unsere Aufmerksamkeit gezielt zu lenken, auch in schwierigen Phasen. Selbst in den schlimmsten Stunden unseres Lebens singt irgendwo ein Vogel.

Jetzt stehe ich mit meinem Fahrrad in diesem stickigen Kasten und muss beinahe lachen über die Ironie. Der Aufzug zu Gleis 8 und ich haben eine komplizierte Geschichte. In der Woche zuvor erst war er mal wieder kaputt. Ich hatte noch überlegt, ob ich nicht besser unerlaubt die Rolltreppe nehme. Aber dann bin ich doch eingestiegen, mit dem Gedanken: Wenn ich heute an der Reihe bin, stecken zu bleiben, dann ist das eben so.

Und da stecke ich nun.

Ich teste alle Knöpfe. Ziehe, drücke, rüttle vorsichtig an der Tür. Nichts. Nichts. Beherzt drücke ich die Notruftaste. Irgendwann meldet sich eine Stimme: „Einfach nochmal die Knöpfe drücken, die Tür hängt manchmal.” Als das nichts hilft: „Ich schicke jemanden.”

Schweißtropfen rinnen mir den Rücken herunter. Der typische Aufzuggeruch mit seiner leichten Urinnote wird bei der Hitze noch ekliger. Über dreißig Grad hat's hier bestimmt.

Kostenlose Sauna?, kommentiert eine amüsierte Stimme in mir.

Meine Finger ertasten den kühlen Korb meines Fahrrads. Ich bin dankbar, dass ich meine Wasserflasche noch aufgefüllt habe.

Was, wenn sich der Aufzug löst? Was, wenn der Sauerstoff immer weniger wird? Was, wenn ich meinen Zug verpasse?

Diese Gedanken kommen - natürlich - aber sie ziehen schnell weiter. Sicherlich auch, weil die Kurssitzung noch in mir wirkt, wie eine Klangschale, deren Ton noch lange nachhallt.

Ich erinnere mich an das, was ich gerade unterrichtet habe:

Auch jetzt kann ich nach etwas Angenehmem suchen.

Ich schaue durch die Scheibe und beobachte einen Linienbus, der in goldenes Licht getaucht über die Bahnhofsbrücke gleitet. Der Himmel färbt sich zartrosa. Die Geräusche von draußen klingen gedämpft, als wäre ich in Watte gepackt. In mir wird es still.

Ein Bahnmitarbeiter in weinroter Uniform erscheint vor der Kabine. Er rüttelt und schraubt erfolglos an der Tür, dann schreit er durch die dicke Scheibe: „Leider haben wir nicht den richtigen Vierkant da!” Ich nicke. Er ruft die Feuerwehr an. Mein Zug rollt ein - und ohne mich wieder aus.

Zwanzig Minuten sind vergangen. Ich packe meine Brotdose aus und in genau diesem Moment setzt sich die Tür in Bewegung. Einfach so. Aus dem Nichts. Der Bahnmitarbeiter rollt die Augen: „Ist die Hitze. Passiert öfter.”

Ich schiebe mein Fahrrad ins Freie und atme tief ein.

schwarzes Fahrrad im Aufzug

Kein virales TikTok-Video, aber immerhin ein Erinnerungsfoto. 😉

Was bleibt: Die bewusste Wahl der Aufmerksamkeit

Während ich über den Bahnsteig gehe, wird mir bewusst: Ich hatte mit Brechstangen und Feuerwehr gerechnet - stattdessen hat sich das Problem still von selbst gelöst. Unser Gehirn hasst diese Unvorhersagbarkeit. Aber genau darin liegt eine Chance.

Im Aufzug konnte ich etwas tun, was unserem Kopf nicht immer leicht fällt: Ich konnte wählen, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte. Statt im Panik-Tunnel zu verschwinden, fand ich immer wieder zurück ins Hier und Jetzt. Statt mich abzulenken, innerlich zu flüchten, wollte ich die Situation bewusst erleben, Akteurin bleiben.

Zum rosa Himmel.

Zum kühlen Metall unter meinen Fingern.

Zu dem absurden Moment, als ich meine halb geöffnete Brotdose in der Hand hielt und die Türen wieder aufgingen.

Solche sinnlichen Details brennen sich tief ein - wenn wir wirklich präsent sind.

Ich erinnere mich an Momente aus einem thailändischen Kloster vor acht Jahren, als wären sie gestern gewesen. An das weiche Licht in den Baumkronen, die prallen, noch grünen Bananen wie Kronleuchter an den Stauden, das Plätschern des Wassers am Bach, die raue Textur der Baumrinde, die ich mit geschlossenen Augen ertastet habe. Wie sich die roten Ameisen erst im kratzigen Kehrbesen verfangen und dann an meinen Füßen verbissen haben, wie die weiße Kleidung an den Leinen im Wind tanzte und wie die scharfen, knusprigen Streusel beim Mittagessen geschmeckt haben.

blau/schwarzer Schmetterling auf Untergrund aus Stein

Ein Schmetterling im Waldkloster, 2017

Ich weiß auch noch genau, wie sich der kühle Metallgriff des Treppengeländers in einem Haus angefühlt hat, aus dem ich vor über fünf Jahren ausgezogen bin. Einfach, weil ich damals für eine Weile den Gang durch die fünf Stockwerke des Treppenhauses zu meiner Achtsamkeitsübung gemacht hatte.

Nimm dir deine Handlungsfreiheit!

Wir können nicht steuern, was im Leben passiert. Wir können auch nicht verhindern, dass sich manche Erfahrungen - angenehm wie unangenehm - tief eingraben. Aber wir können steuern, was noch bleibt. Worauf wir in der Gegenwart unseren Blick richten.

Ob wir nur den verpassten Zug erinnern oder auch den Himmel, der sich in diesem Moment rosa verfärbt hat.

So entsteht im Laufe unseres Lebens ein mentales Fotoalbum: gefüllt mit Momenten, die wir bewusst wahrnehmen. Nicht weil sie perfekt sind, sondern weil wir in ihnen wirklich präsent waren.

Deine Handlungsfreiheit liegt nicht darin, zu kontrollieren, was passiert. Sie liegt darin, zu entscheiden, wie du es erlebst und was davon zu einem Teil von dir wird.


Fragen zum Nachdenken

Welche kleinen Alltagsmomente würdest du gerne in deinem mentalen Erinnerungsalbum aufbewahren?

Was hilft dir, auch in schwierigen Momenten etwas Angenehmes (oder etwas Neutrales) zu entdecken?

Suzan Wolf

Suzan Wolf ist Psychologin (M.Sc.) und zertifizierte Achtsamkeitslehrerin.
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