Wie funktioniert digitale Achtsamkeit?

Eine Einladung: Dieser Text möchte anders gelesen werden. Nimm dir Zeit - egal, ob du gerade an deinem Küchentisch oder in der Straßenbahn sitzt. Halte inne zwischen den Absätzen. Spüre nach, wenn ein Satz einen Stich in deinem Herzen verursacht. Atme. Unterbrich die Lektüre, wann immer du möchtest. Der Artikel läuft dir nicht davon.

Eine Erkenntnis: Dieser Text wurde nicht glattgebügelt. Er ist entstanden, nachdem ich einen perfekten Artikel zum selben Thema geschrieben, überarbeitet und schließlich beiseite gelegt habe. Mit jeder Überarbeitungsrunde wurde er langweiliger, mal zu politisch, mal zu philosophisch, dann einfach zu platt. Ich hatte mich in meinem eigenen Gedankennetz verfangen. Statt ihn weiter wie verrückt zu überarbeiten, hab ich’s sein lassen und andere Dinge mit meiner Zeit angefangen. Dann habe ich nochmal ganz von vorne begonnen, mir mehr Freiheiten gelassen und… ja, einfach diese Qualität des Innehaltens selbst zum Kernstück gemacht. Was du hier liest, ist ein Übungsfeld für Handlungsspielraum - deinen und meinen.

Ich bin schon von Berufs wegen eine ganz aufmerksame Beobachterin.

Und das beobachte ich:

Die allermeisten jungen Menschen hadern mit ihrer Mediennutzung.

Als erwachsene Person mit (angeblich) voll ausgebildetem Gehirn, die seit zehn Jahren professionell ihren Geist schult, ist es mir nicht möglich, meine App-Nutzung zu regulieren.¹

(Ja, du hast richtig gelesen. Nicht. Möglich.)

Mit Apps meine ich vor allem diejenigen Apps, in denen man scrollen kann für mehr Informationen.

Unbegrenztes Scrollen. Unbegrenzter Inhalt. Begrenztes Leben.

Ich überschätze die Nützlichkeit meiner Mediennutzung. Unterschätze, was ich sonst mit dieser Zeit anfangen könnte. Scrolle und scrolle und finde immer was Spannendes oder Nützliches. Ganz selten auch mal was Revolutionäres, was wirklich mein Leben verändert.

Aber: Die lebendigsten und prägendsten Tage, Wochen und Monate meines Lebens waren die mit der wenigsten Mediennutzung.

​Was wäre, wenn ich dir sage, dass du nicht schwach bist, sondern dein Gehirn gegen brillante Psycholog/innen (die selbst ihren Kindern keine Smartphones kaufen) und ausgefeilte Algorithmen kämpft?

Gehirne ticken sehr unterschiedlich. Manche Menschen lassen sich leichter verführen, andere weniger oder gar nicht. Der Buddhismus unterscheidet verschiedene Persönlichkeitstypen; einer davon ist der „gierige Typ”. Meiner.

Der hungrige Typ. Immer auf der Suche. Nach mehr.

​Wenn ich gewisse Medien konsumiere, dann färben sie meinen Geist. Bilder wiederholen sich in ruhigen Minuten. Ich denke über fremde Menschen oder Inhalte nach, die mir nichts bedeuten. Vergebe ihnen Platz in meinem Kopf. Unwichtig. Ablenkung.

Mein Geist ist mir dafür zu kostbar. Klar, ich kann die Gedanken und Bilder ziehen lassen. Aber manche brauchen gar nicht erst einzuziehen.

​Ich nutze Medien sehr gerne zur Bedürfniserfüllung, bis hin zur Betäubung. Das ist mir gerade kürzlich noch mal während eines längeren Stromausfalls klar geworden.²

Und ich merke es während Retreats oder wenn ich in der Natur mehrere Tage oder Wochen kein Netz habe.

Paradoxerweise fällt es mir viel leichter, mich zu regulieren, wenn ich kein Smartphone bei mir habe.

Dann habe ich Zeit. Zeit für mich. Zeit für nährende Tätigkeiten.

Auch kann ich dann in so manchen unangenehmen Zuständen ein bisschen marinieren, statt mich durch Doomscrolling³ abzulenken.

KI-Bild, Handschrift privat.

Ich liebe das Internet. Wirklich.

Und trotzdem schreibe ich diesen Text hier zunächst per Hand.

Im Wald. Eingehüllt in Vogelstimmen und Kiefernduft. Auf einem harten Stein, der mir verdammt unangenehm in den Hintern pikst und auf dem ich partout keine angenehme Position finde.

Die echte Welt ist unbequem. Sie fordert meine volle Präsenz.

Sie ist voller Reibung.

Und Reibung erzeugt Wärme und schafft Lebendigkeit.

Ein Wäldchen in Portugal.

🎧 Höre hier digital rein in die analoge Welt.

Schließe die Augen. Lausche. Atme. Spüre deinen Körper, während du zuhörst.

​Smartphones und digitale Medien sind Werkzeuge. Ich will und kann nicht ausschließen, dass das Internet doch noch die Welt rettet. Aber ja, wer weiß, es eröffnet im Moment genauso viele Abgründe.

Ich denke an Soma in Aldous Huxleys Schöne neue Welt - die Droge, die alle gefällig macht.

Denn wenn ich Bedürfnisse betäube durch kurzfristige Euphorie, dann werde ich angepasst, widerstandslos, milder vielleicht in meiner Wut oder anderen zentralen Gefühlen.

Und ganz ehrlich: Wenn es eine Emotion gibt, die angesichts der Weltlage gerade angemessen ist, dann ist es wohl Wut.

Nun, ich wäre lieber unglücklich, als dies unechte, gleisnerische Glück mein eigen zu nennen, dessen Sie sich hier erfreuen.
— Michel in "Schöne neue Welt" (Aldous Huxley)

Was wäre, wenn du morgens aufwachst und dein erster Gedanke nicht deinem Smartphone gilt?

Das intime Kennenlernen unseres eigenen Geistes - unseres inneren psychischen Fahrwassers und unserer typischen Fahrpläne - kann bei vielen suchtnahen Gewohnheiten helfen.

Dieses Kennenlernen fördert unsere Wahlfreiheit und die Fähigkeit, nicht impulsiv zu handeln. Wir gewinnen mehr Handlungsspielraum.

Und ich glaube, wenn alle Menschen ein paar Prozent mehr Handlungsspielraum gewinnen würden, dann wäre die Welt ein besserer Ort.

​Wir können unsere Muster, unsere Fahrpläne, auch wieder verlernen.

Wenn wir Medien übermäßig nutzen, dann haben wir oft weniger Zeit für die Grundzutaten eines guten Lebens:

Genügend und guten Schlaf, gesundes Essen und reichlich Bewegung.

Aber auch die Dinge, die unser Leben wirklich besonders und lebenswert machen, stehen oft hintenan - wie Einkehr und Stille, Wunder und Staunen, Präsenz und Verbundenheit.

​Was wäre, wenn du heute eine freie Stunde ohne dein Smartphone verbringst - und dabei erforschst, was in dir passiert?


Nachklang

Dieser Text ist ein Samen. Es gibt keinen 👍. Er sammelt keine persönlichen Daten von dir.

Er lädt dich nur dazu ein, innezuhalten.

Und vielleicht, nur vielleicht, ein kleinen Handlungsspielraum zurückzuerobern.


​1 Mit jungen Menschen meine ich hier vor allem die "Gen Z", die mit Smartphones aufgewachsen ist. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist ein für die Selbstregulation wichtiger Teil unseres Gehirns - der präfrontale Kortex - erst mit etwa 25 Jahren voll ausgereift.

2 Das war der landesweite Stromausfall am 28. April in Portugal und Spanien, bei dem für ca. 10 Stunden nicht einmal mehr das Internet verfügbar war.

3 Als "Doomscrolling" bezeichnet man das wiederholte und oft zwanghafte Konsumieren negativer Nachrichten in digitalen Medien; selbst dann, wenn es das eigene Wohlbefinden spürbar beeinträchtigt. Der Begriff setzt sich aus dem englischen "doom" (Untergang, Unheil) und "scrolling" (dem Weiterwischen auf Bildschirmen) zusammen.

Suzan Wolf

Suzan Wolf ist Psychologin (M.Sc.) und zertifizierte Achtsamkeitslehrerin.
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