Warum wir lieber Elektroschocks ertragen als unsere eigenen Gedanken

Stell dir vor, du müsstest eine Viertelstunde in einem schlichten Raum auf einem Stuhl sitzen, ohne aufstehen oder einschlafen zu dürfen. Du darfst dich in Gedanken mit einem Thema deiner Wahl beschäftigen. Außerdem hast du die Möglichkeit, dir jederzeit per Knopfdruck einen unangenehmen, aber ungefährlichen Elektroschock zu versetzen.

Was würdest du tun?

Umgang mit der inneren kritischen Stimme

Bild: Mikuláš Galanda

In einer Studie der University of Virginia wurde genau dieses Szenario untersucht.¹

Das überraschende Ergebnis: Zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen - die alle vorher angegeben hatten, dass sie sogar Geld zahlen würden, um keinen Elektroschock zu erhalten - drückten lieber auf den Knopf, als fünfzehn Minuten lang mit ihren Gedanken allein zu sein.

Ein Proband verpasste sich sogar 190-mal einen Elektroschock. (!)

„Der untrainierte Geist beschäftigt sich nicht gerne mit sich selbst”, schlussfolgerten die Forschenden.

Wenn die Stille laut wird

In meinem eigenen Leben begegne ich einer ähnlichen Situation, wenn ich abends im Bett liege - das Licht ausgeschaltet, Ohrstöpsel drin - und auf das Einschlafen warte.

In diesen stillen Momenten bin ich unausweichlich mit meinen Gedanken allein; ohne Buch, ohne Podcast, ohne Fernseher als Ablenkung.

Es gab schon Tage, an denen ich absolut keine Lust hatte, diese Minuten mit meinen Gedanken zu verbringen.

Denn meine innere Stimme war wirklich schwieriger zu ertragen als ein Elektroschock.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum viele Menschen es vorziehen, sich abzulenken, anstatt mit ihren eigenen Gedanken allein zu sein?

Wir füllen jeden Moment der Stille mit Lärm. Wir scrollen und konsumieren so lange, bis unser Verstand überlastet und benommen ist.

Doch wenn wir unserer inneren Stimme nicht regelmäßig zuhören, wird es immer schwieriger herauszufinden, was sie uns eigentlich mitteilen möchte und wer wir hinter dieser Stimme eigentlich sind.

Meine innere kritische Stimme merkt freundlich an, dass ich bitte aufhören soll, meine Texte selbst zu illustrieren. 😂

Bei mir hat es rückblickend erstaunlich lange gedauert, bis ich mich im Rahmen eines Kurses das erste Mal wirklich mit meiner inneren kritischen Stimme auseinandergesetzt habe.² Anfangs war ich noch fest davon überzeugt, dass meine Gedanken in der Regel hilfreich und freundlich seien.

Einige Wochen später fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen:

Diese kritische innere Stimme begleitet mich ja ständig. Ständig!

Sie lief bislang nur unter meinem Bewusstseinsradar…

Das tägliche Bühnenprogramm der inneren Kritik

Hier ein kleiner Auszug aus dem Repertoire der inneren kritischen Stimmen:

  • "Du hast es schon wieder nicht geschafft, dein Sportprogramm durchzuziehen. Du musst einfach mehr Disziplin haben, so wird das nie etwas!”

  • “Jetzt hast du schon wieder die Kinder angeschrien und gibst all die Traumata direkt an die nächste Generation weiter. Toll gemacht!”

  • “Diese innere Leere, die du abends im Bett spürst, zeigt doch nur, dass du ein wertloses Individuum in einer dem Untergang geweihten Welt bist.”

  • “Die Beweise sprechen gegen dich - alle anderen auf Instagram kriegen ihr Leben auf die Reihe, reisen um die Welt, schwimmen in Geld, sind erfüllt in Familie und Beruf, fit und gesund, nur du bist zu nichts davon in der Lage.”

  • “Du brauchst dich gar nicht zu wundern, wenn du demnächst einen Herzinfarkt erleidest, wenn du es nicht mal schaffst, pünktlich ins Bett zu gehen und 10.000 Schritte am Tag zu laufen.”

  • “Wie kann das sein, dass du es nicht mal mehr schaffst, regelmäßig deine Freunde zu treffen? Und Onkel Peter hast du auch nicht zum Geburtstag gratuliert. Du bist echt das schwarze Schaf der Familie.”

Es könnte sein, dass beim Lesen ein Teil von dir zugestimmt hat. Damit wärst du nicht allein.

Denn wir haben es hier nicht mit einem individuellen, sondern mit einem biologisch-kulturellen Phänomen zu tun.

Eine Theorie besagt, dass sich Selbstkritik bei uns Menschen entwickelt hat, damit wir uns besser an die Regeln der Gruppe halten. In der Steinzeit, war es überlebenswichtig, zur Gemeinschaft zu gehören - wer ausgestoßen wurde, hatte kaum Überlebenschancen.

Die Fähigkeit, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen, half uns also, in der Gruppe akzeptiert zu bleiben.

Aber in unserer modernen Gesellschaft wird dieser ursprünglich schützende Mechanismus der Selbstkritik übermäßig verstärkt:

  • durch eine Kultur, die individuellen Erfolg betont,

  • durch ein Wirtschaftssystem, das stetiges Streben nach mehr fordert,

  • und durch die allgegenwärtige Möglichkeit zum Vergleich mit anderen – besonders in sozialen Medien.

Was einst zu unserem Überleben beitrug, schadet uns heute mehr, als es hilft.

Aktuelle Studien zeigen, dass eine dauerhafte Selbstkritik vor allem negative Folgen für unser Wohlbefinden hat.

Dass Selbstkritik uns gerade nicht - wie oft angenommen - leistungsfähiger, gesünder und motivierter macht.³

Selbstkritik macht uns nicht besser, sie macht uns nur erschöpfter.

Nachdem ich meiner kritischen inneren Stimme damals das erste Mal direkt gegenüberstand, stellte ich mit der Zeit überrascht fest, dass ich dieser kritischen Stimme sehr viel zu verdanken habe und dass sie mir - in ihrem Kern - wirklich helfen will.

Diese Erkenntnis wirklich einsinken zu lassen, hat natürlich Jahre gedauert und wäre ohne Unterstützung aus verschiedenen Richtungen nicht möglich gewesen.

Aber Mensch, diese Arbeit hat sich so sehr gelohnt.

Inzwischen sehe ich meine innere kritische Stimme als wohlwollende Begleiterin statt als unerbittliche Richterin und mein Leben hat sich spürbar verändert. Ich erreiche meine Ziele nicht trotz, sondern wegen größerer Freundlichkeit mir selbst gegenüber. Ich bin milder zu mir, wenn ich einen Fehler mache oder mich ein Schicksalsschlag trifft. Ich vergleiche mich seltener mit anderen.

Und wenn ich abends im Bett liege, in der Dunkelheit, mit Ohrstöpseln drin, fürchte ich die Stille nicht mehr. Manchmal kommt die kritische Stimme zu Besuch, aber statt eines Elektroschocks brauche ich nur zu sagen:

“Hey, du, erzähl doch mal. Was beschäftigt dich gerade so sehr, dass du mich nicht schlafen lassen kannst?”

Und nachdem sie mir für ein paar Momente ihr Leid klagen darf, kann die Stimme merklich entspannen und ich schlummere friedlich ein.

Umgang mit dem inneren Kritiker

Als ich der kritischen Stimme erklärt habe, dass KI auch keine Hände zeichnen kann, hat sie eingelenkt...


Dich mit der inneren Stimme anfreunden

Der erste Schritt, um mit der inneren kritischen Stimme besser umzugehen, ist einfach nur wahrzunehmen, dass sie da ist.

Diese Stimme erzeugt Gedanken - oft begleitet von unangenehmen Gefühlen wie Scham, Neid, Wut oder Sorge.

Wichtig ist: Diese Gedanken und Gefühle sind nicht die Wahrheit über dich. Nimm dir Zeit, diese Gedanken und Gefühle zu bemerken. Du musst nicht sofort etwas ändern. Einfach nur beobachten.

Mit der Zeit lernst du: Da ist noch so viel mehr an dir als diese kritische Stimme. Du bist gut und goldrichtig – genau so, wie du jetzt bist.

Du lernst auch, nicht mehr automatisch alles zu glauben, was dir die Gesellschaft erzählt (oder die Medien, TikTok, Instagram & Co.), was du angeblich sein oder tun “musst” - und stattdessen deinem eigenen inneren Kompass zu folgen.

Du lernst, mit dir selbst wie mit einer geliebten Person zu sprechen: verständnisvoll und geduldig, ehrlich und gleichzeitig mitfühlend. Oft hat die innere Kritik durchaus einen wahren Kern, aber der Ton macht die Musik.

Wenn es für dich schwierig ist, eine freundliche Haltung dir selbst gegenüber zu entwickeln, dann bist du nicht allein.

Vielleicht ist es eine gute Idee, dir Unterstützung zu holen, z.B. in Form von Büchern, geführten Meditationen, Kursen zu Achtsamkeit bzw. Selbstmitgefühl oder Psychotherapie (z.B. Compassion Focused Therapy oder Internal Family Systems).

Denn das Schöne ist: Unser Gehirn kann in jedem Alter neue Wege lernen. Schritt für Schritt, ohne Druck, mit einer Prise Geduld. Selbstfreundlichkeit ist wie ein Muskel, der durch sanfte, regelmäßige Übung kräftiger wird.


​1 Wilson, Timothy D., et al. “Just think: The challenges of the disengaged mind.” Science 345.6192 (2014): 75-77. doi:10.1126/science.1250830 (Zugriff hier)
2 Als Teilnehmerin eines MBCL-Kurses, ca. 2019 (Mindfulness-Based Compassionate Living nach Dr. Erik van den Brink und Frits Koster)
3 Neff, Kristin D. “Self-compassion: Theory, method, research, and intervention.” Annual Review of Psychology 74.1 (2023): 193-218. (Zugriff hier)

Suzan Wolf

Suzan Wolf ist Psychologin (M.Sc.) und zertifizierte Achtsamkeitslehrerin.
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