Vorhersagestress und was du dagegen tun kannst.

Grüne, dschungelbedeckte Berge in Kolumbien

Vor meiner Kolumbienreise 2018 hatte ich den Dschungel bereits in meinem Kopf durchquert. In meiner Vorstellung wanderte ich auf einem schmalen Pfad, ständig darauf bedacht, nicht von wilden Tieren angegriffen oder von Unbekannten überfallen zu werden.

Die Medien hatten düstere Bilder von Entführungen und anderen Horrorszenarien in meinem Kopf verankert. Und obwohl ich wusste, dass meine Ängste übertrieben waren, konnte ich sie kaum abstellen.

Als ich schließlich im kolumbianischen Dschungel stand, spürte ich etwas völlig Unerwartetes: eine tiefe Ruhe.

Wir überblickten ein weitläufiges Tal voll dunkelgrüner Wälder. Menschenwerk darin war rar, nur einige verwitterte Steinmauern lugten grau aus dem Blätterdach hervor und zeigten, dass das Land von Viehzüchtern genutzt wurde.

Dahinter erhoben sich die Berge. Es waren steile Gipfel, voller Furchen und Schluchten, und doch irgendwie heimelig, so saftig grün blühte die Natur auf diesen Hängen. Die Spitzen lagen in den Wolken und nur vereinzelte Sonnenstrahlen brachen hindurch. Die Berge sahen aus wie bedeckt vom Atemhauch eines Riesen.

Ausblick auf grüne Berge vom Camino Real, Kolumbien

Aussicht vom Camino Real, Kolumbien

Während wir den schmalen Pfad entlanggingen und die Aussicht über das Tal genossen, flatterten um uns herum Schmetterlinge. Manche waren weiß und schimmerten fast türkis, andere waren neongrün, wieder andere hatten dunkle, farbig umrandete Augen auf den Flügeln.

Auf einer Blüte vor mir ließ sich ein schwarz-orangefarbener Schmetterling nieder, der bei näherer Betrachtung vier blutrote Flecken auf der Flügelunterseite enthüllte. So eine satte Farbe hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen.

Eine Weile später, wurde der Weg immer dorniger und die Markierungen unregelmäßiger. Wir sollten schon längst am Ziel angekommen sein. Da begann ich langsam zu ahnen, dass wir uns verlaufen hatten. Wir stießen auf einen schlammigen Fluss, den wir kaum trockenen Fußes überqueren konnten. Spätestens da war uns klar, dass wir den falschen Markierungen gefolgt waren. Verflixt!

Die Sonne sank bereits tiefer, in etwa einer Stunde würde sie untergehen. Die nächste Ortschaft war zu weit entfernt, um bei Tageslicht anzukommen. Doch auch in diesem Moment, während wir weiter durch das immer unwegsamer werdende Gelände gingen, spürte ich tatsächlich keine Panik. Die Szenarien, die ich mir wochenlang in Gedanken ausgemalt hatte, schienen plötzlich bedeutungslos.

Angst ist dafür da, um uns von dummen Aktionen abzuhalten – wir steckten jedoch schon mitten in der schwierigen Situation und dort erfüllte die Angst keine Funktion mehr. Ein Überlebensinstinkt übernahm unsere Handlungen und ließ keinen Platz für Sorgen. So liefen wir beherzt weiter durch den Dschungel, müde, aber angstfrei.

Nach einem erschöpfenden Marsch fanden wir schließlich einen Bauernhof - ohne Scherz einfach mitten im Dschungel. Dort lebte neben einigen Hühnern und zwei Chihuahuas auch eine mehrköpfige Familie, die uns - Überraschung - nicht ausraubte. Stattdessen organisierte sie uns ein halsbrecherisches Motortaxi, welches uns kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück ins Dorf brachte. Das Abenteuer war überstanden – keines der Katastrophenszenarien, die ich mir ausgemalt hatte, war eingetreten.


Ich habe kürzlich erst an diese Wanderung zurückgedacht, als ich mich folgendes gefragt habe:

Wie kann es sein, dass alltägliche Situationen mich mehr in Stress versetzen als die Aussicht auf eine Nacht im Dschungel?!?

Neulich lief ich abends am Bahnhof mit meinem Fahrrad durch die Unterführung zum Zug und mir fiel siedend heiß ein, dass der Aufzug – den ich für mein schweres Rad dringend brauchte – immer noch kaputt sein könnte. Die Rolltreppe zum Gleis war schon seit Wochen kaputt, und der Aufzug hatte am Vortag den Geist aufgegeben.

Der bloße Gedanke daran ließ mein Herz schneller schlagen. Ich sah mich schon Mitreisende anflehen, mir zu helfen, das schwere Rad die Treppe hochzuwuchten, oder im schlimmsten Fall einen Bandscheibenvorfall zu erleiden, während mein Zug an mir vorbei rauschte.

Meine Schultern spannten sich an, mein Atem beschleunigte sich – bis mir nach ein paar Minuten bewusst wurde, dass meine Vorstellungskraft auf Hochtouren lief.

Ab diesem Moment an konzentrierte ich mich auf meine Schritte auf dem Boden und wiederholte in Gedanken immer wieder, “ich weiß nicht, ob der Aufzug wirklich kaputt ist” - ein Hilfsgedanke, der mich erfolgreich aus der negativen Gedankenschleife riss. Der Aufzug fuhr übrigens wieder.


Unser Gehirn ist eine Vorhersagemaschine. Es sammelt Informationen aus unserer Umgebung, vergleicht sie mit vergangenen Erfahrungen und berechnet daraus, was als Nächstes passieren könnte.

Diese Fähigkeit hat sich evolutionär entwickelt – als Überlebensmechanismus. In der Wildnis bedeutete das schnelle Erkennen von Gefahren oft den Unterschied zwischen Leben und Tod. Wenn unsere Vorfahren ein Rascheln im Gebüsch hörten, war es sicherer, anzunehmen, dass ein Raubtier lauerte, als davon auszugehen, dass es nur der Wind war. Wenn 1000 Mal alles gut ging und einmal nicht, vermutet unser Gehirn bei nächster Gelegenheit wieder den schlechten Ausgang. Lieber einmal zu oft eine Gefahr vorhersagen als einmal zu wenig.

Steinzeitmensch trifft Wollnashorn

Steinzeitmensch trifft Wollnashorn

Der Autor und Meditationslehrer Denny Penman vergleicht diese Vorhersagen unseres Gehirns mit der Computersimulation aus „Matrix“. Die meiste Zeit des Tages leben wir in dieser Simulation und merken es nicht. Die Realität bewusst wahrzunehmen, kostet unser Gehirn sehr viel Energie. Deshalb nehmen wir nur das Nötigste wahr, der Rest wird auf Basis der Vorhersagen automatisch ergänzt.

Leider ist unser Gehirn dabei auf das Negative gepolt – auf all das, was schiefgehen könnte. Diese Negativitätstendenz sorgt dafür, dass Gefahren und Risiken immer dringlicher erscheinen als die oft wahrscheinlicheren positiven Entwicklungen.

Deshalb leiden wir oft unter etwas, das sich antizipatorischer Stress nennt: Vorhersagestress im Grunde.

Das ist der Stress, der entsteht, wenn wir uns intensiv mit möglichen negativen Szenarien in der Zukunft beschäftigen – selbst dann, wenn es im Moment gar keine unmittelbare Gefahr gibt.

Anders als im Dschungel, wo die Gefahr wirklich direkt vor uns liegen könnte, versetzt uns Vorhersagestress in einen Zustand dauernder Alarmbereitschaft für Probleme, die nur in unserem Kopf existieren.

Es ist ein bisschen wie bei der Wettervorhersage. Genau wie ein Wetterradar Regenschauer frühzeitig ankündigt, sendet unser Gehirn Vorwarnungen über potenzielle Gefahren. Doch wie bei einem Wetterradar können die Warnungen Fehlalarme sein oder der Regen zieht ganz woanders hin.


Im Alltag führt das oft dazu, dass wir selbst kleine potenzielle Schwierigkeiten gedanklich so lange durchspielen, bis wir emotional und irgendwann auch körperlich erschöpft sind.

In unserer modernen, sicheren Welt raubt uns die Vorhersagemaschine unseres Gehirns im Alltag viel Energie. Die könnten wir meiner Meinung nach besser darauf verwenden, die wirklichen Probleme in unserem Leben (oder auf der Welt) anzugehen.

Es hilft sehr, diesen Mechanismus zu erkennen und zu lernen, ihn gelegentlich bewusst zu unterbrechen.

Mich über die möglichen Gefahren einer Kolumbienreise zu informieren und entsprechende Vorkehrungen und Entscheidungen zu treffen, ist sehr sinnvoll. Wochenlang über mediale Horrorszenarien nachzudenken, definitiv nicht.

Körperlicher Stress hilft mir in dem Moment, in dem der Aufzug tatsächlich ausfällt, die Kraft aufzubringen, um das Fahrrad zu tragen, oder motiviert mich, nach Hilfe zu fragen. Bis ich mit Sicherheit weiß, ob der Aufzug fährt, ist der Stress allerdings nur verschenkte Energie.


So kannst du (sinnlosen) Vorhersagestress in deinem Alltag verringern:

  1. Mit Hilfe von Achtsamkeitsübungen lernst du, unbewusste Gedanken zu erkennen, wenn sie auftreten, und sie zu beobachten, ohne sie zu bewerten.

  2. Mit Wissen über die Art und Weise, wie die Vorhersagemaschine in deinem Gehirn funktioniert, kannst du in diesem Moment einen Abgleich mit der Realität vornehmen: Ist das wirklich wahr, was du dir gerade erzählst? Mit ein bisschen Übung findest du für dich passende Hilfsgedanken (z.B. "jetzt gerade ist alles in Ordnung", "ich bin in Sicherheit", "ich weiß nicht, was passieren wird") und Wege, mit der körperlichen Anspannung und unangenehmen Gefühlen umzugehen.

  3. Der achtsame Fokus auf die Sinneserfahrungen im Hier und Jetzt holt dich verlässlich immer wieder aus der automatischen Gedankenschleife. Wenn ich meine Füße auf dem Boden spüre, kann ich nicht gleichzeitig grübeln.


Die Erfahrung im kolumbianischen Dschungel hat mir eindrücklich gezeigt, wie viel Macht unsere Gedanken haben – und wie oft wir uns gedanklich in Szenarien verlieren, die so nie eintreten. Die Ängste, die ich mir vorab ausgemalt hatte, verschwanden im Moment der echten Herausforderung.

Im Alltag dagegen bemerke ich oft, wie leicht mich völlig ungefährliche Situationen wieder in diese „Gedankenfalle“ locken, ob am Bahnhof oder bei anderen Hürden des täglichen Lebens. Achtsamkeit hilft mir dabei, wieder im Hier und Jetzt anzukommen, anstatt mich von „Was-wäre-wenn“-Gedanken vereinnahmen zu lassen.

Vielleicht kennst du Vorhersagestress auch aus deinem Alltag – und vielleicht magst du dir regelmäßig bewusst machen, dass die Gegenwart oft viel sicherer ist, als dein Kopf es dir vorgaukelt.

Wo hast du zuletzt Vorhersagestress erlebt? Was würdest du mit der wiedergewonnenen Energie anstellen, wenn du diesen Stress nicht hättest? 😊

Suzan Wolf

Suzan Wolf ist Psychologin (M.Sc.) und zertifizierte Achtsamkeitslehrerin.
➙ Abonniere meinen Newsletter.
➙ Lerne mehr über MBSR-Kurse.
➙ Entdecke mein Angebot für Unternehmen.

https://www.suzan-wolf.de/newsletter
Zurück
Zurück

Zuflucht finden durch Achtsamkeit

Weiter
Weiter

Achtsam unterwegs mit der S3