Zuflucht finden durch Achtsamkeit
Im Hier und Jetzt dringen laute Geräusche an mein Ohr. Je mehr ich mich auf sie konzentriere, desto näher rasen sie, durchbrechen scheinbar die Grenze meines Körpers, sickern mir durch die Haut. Ein innerer Widerstand regt sich gegen den eindringlichen Lärm, der schnell meine ganze Wahrnehmung vereinnahmt.
Ich versuche, mich zu konzentrieren. Es ist nicht einfach.
Irgendwo im Haus bellt ein Hund. Laut.
Nebenan schreit ein Kind. Schrill.
Ich schiebe die Noise-Cancelling-Kopfhörer tiefer in meine Ohren. Es hilft nichts. Ein Hund bellt, das Kind schreit, und darüber hinaus scheint der Weltsegen schief zu hängen.
Kilometerweit entfernt toben Kriege, Wälder brennen. Despoten und Egomanen spinnen ihre unmenschlichen Machenschaften, Neuwahlen stehen an und Gletscher schmelzen.
Die äußere Welt spiegelt sich in meinem Inneren.
Mein Kopf dröhnt. Ich trinke einen Schluck Wasser. Mein Herz ist schwer. Ich atme tief ein.
Ich fühle, wie sich Verzweiflung in mir regt.
Merke, wie mein Geist und mein Körper sich nach einer Pause sehnen, nach einem sicheren Hafen suchen.
Doch wohin flüchten, wenn das Chaos innen und außen tobt?
Wie können wir Zuflucht finden - allgemein und ganz konkret?
Ich erlaube mir, meinen Atem zu spüren, den Druck der Kopfhörer in meinen Ohren, das kalte Glas Wasser in meiner Hand. Es ist nicht perfekt, aber es bringt mich zurück in diesen Moment.
Achtsamkeit ist der Schlüssel - immer, egal, welche Kammer der Zuflucht ich betreten möchte.
Manchmal erzählt mir mein Verstand, dass es mir besser gehen würde, wenn ich etwas anderes machen würde oder an einem anderen Ort wäre, als da, wo ich gerade bin. Das ist aber oft nur eine Illusion.
Weglaufen ist meistens keine Option, zumindest langfristig. (Nicht einmal die Flucht auf den Mars würde die Probleme der Menschheit lösen.)
Sich dieser Realität zu stellen, das wirklich zu begreifen, das ist Achtsamkeit.
Jon Kabat-Zinn bringt diese Idee auf den Punkt:
“Wherever you go, there you are.”
Wo immer du hingehst, da bist du.
Hier bin ich also.
Und nun?
Achtsamkeit ist der Schlüssel – aber manchmal ist es nicht genug, einfach mit den Erfahrungen im gegenwärtigen Moment zu verweilen.
Es gibt Momente, in denen ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, in denen Unsicherheit allgegenwärtig ist.
Hier kommt ‚negative capability‘ ins Spiel.
Der Dichter John Keats beschreibt in einem Brief an seine Brüder im Jahr 1817 “negative capability” als „die Fähigkeit, mit Unsicherheiten, Mysterien und Zweifeln zu verweilen, ohne ungeduldig nach Fakten und Vernunft zu suchen.“
Ich stelle es mir so vor, als würde ich mitten im Nebel stehen, ohne eilig nach Klarheit zu suchen. Einfach da sein - mitten in der Unsicherheit.
Allerdings ist es ganz menschlich, unangenehme Erfahrungen zu meiden. So wie wir eine frische Wunde nicht berühren wollen, weil sie schmerzt.
Wir fürchten, dass der Schmerz uns überwältigen könnte.
Hattest du schon einmal das Gefühl, dass ein Schmerz zu groß sein könnte, um ihn auszuhalten?
Und hast du auch schon einmal gespürt, dass der Schmerz nachlässt, wenn du ihm einfach Raum gibst, ohne zu versuchen, ihn zu vertreiben?
Genau wie bei einer Wunde ist auch emotionaler Schmerz nicht das Ende – er ist ein Zeichen für den Heilungsprozess. Es braucht Mut (und oft auch Unterstützung!), sich der Wunde zuzuwenden, sie zu reinigen und ihre Heilung zu begleiten.
Dabei entdecken wir, dass der Schmerz zwar da ist, aber nicht annähernd so erdrückend wie die Angst, uns ihm zu stellen oder das Risiko einzugehen, dass die Wunde sich verschlimmert.
Angenehme und unangenehme Erlebnisse gehören zusammen, wie Licht und Schatten. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Wenn wir tiefe Freude spüren und das Leben genießen wollen, müssen wir auch bereit sein, mit traurigen oder schwierigen Momenten umzugehen.
Wir können unsere menschliche Erfahrung nicht nur in eine Richtung abschneiden.
Wenn wir uns vom Leid in der Welt abgrenzen, zahlen wir dafür einen Preis: Gefühlsarmut.
Das ist eine jahrtausendealte Weisheit, die auch von der modernen psychologischen Forschung unterstützt wird.
Glaub mir, ich bin eine wahre Meisterin darin, diesen grundlegenden Aspekt menschlicher Erfahrung anzuzweifeln!
Ich erinnere mich an ein Zitat von Pema Chödrön:
„Der Frieden, den wir suchen, ist kein Frieden, der zerbricht, sobald es Schwierigkeiten oder Chaos gibt. […] Frieden ist eine Erfahrung, die groß genug ist, um alles zu umfassen, das auftaucht, ohne sich davon bedroht zu fühlen.“ [eigene Übersetzung, eigene Hervorhebung]
Und halte inne.
Moment.
Chaos wird also nicht zu Frieden.
Sondern Chaos ist ein Teil des Friedens.
Der verflixte Lärm, der mich von meiner Arbeit ablenkt, und meine absolute Ablehnung dieses Lärms, sind Teil des Friedens.
Irgendwie gelingt es mir, diesen Widerspruch anzunehmen und... ein tieferes Verständnis kann sich öffnen – ich erinnere mich, dass das Leben selbst ein großes Mysterium ist, das mich auf untrennbare Weise mit allem um mich herum verbindet.
Ich blicke aus dem Fenster. Es ist dunkel geworden und die ersten Sterne erscheinen am Himmel.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass wir alle aus Sternenstaub bestehen? Oder weniger poetisch: dass viele Elemente in deinem Körper, wie Kohlenstoff, Sauerstoff und Eisen, aus den Sternen stammen?
Spürst du auch manchmal ein bisschen galaktischen Staub in dir funkeln, wenn du in den sternenklaren Nachthimmel blickst?
Völlig egal, welcher Weisheitstradition du folgst oder ob du überhaupt irgendetwas glaubst - es ist schwer zu leugnen, dass wir alle auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden sind.
Für mich liegt paradoxerweise eine tiefe Hoffnung darin, dass ich dieselbe Luft atme, wie ein alter Patriarch in Mississippi, der seine queere Tochter an Thanksgiving enterbt.
Dass die Atome, die meinen Körper jetzt formen, aus dem selben Sternenstaub stammen, wie die Atome, die deinen Körper bilden. Und den Körper des bellenden Hundes und des schreienden Kindes.
Dass es einen gemeinsamen Nenner gibt, der uns alle miteinander verbindet.
Die Welt draußen tobt, Hunde bellen, Kinder schreien, aber hier, mitten im Chaos, sitze ich in Stille und finde Frieden. In mir. Und das ist genug, um weiterzumachen.