Achtsamkeit als Schlüsselkompetenz

Vielleicht kennst du diesen Moment: Du sitzt am Schreibtisch, das Handy vibriert, im Hintergrund spielt Musik, und in deinem Kopf formt sich ein dichter Knoten aus To-dos, Gedanken und Gefühlen. Ein Moment, der sich so vertraut anfühlt und gleichzeitig so unlösbar.

Dann, ganz plötzlich, hältst du inne.

Nimmst einen Atemzug, ganz bewusst.

Dein Blick fällt auf das Fenster, durch das das Licht der tiefstehenden Sonne in den Raum fällt und Schatten an die Wand malt. Für einen winzigen Augenblick klärt sich der Knoten. Es ist wie das Anhalten eines Films – eine kurze Pause, aber lange genug, um zu sehen, was wirklich vor dir liegt.

(Wenn du magst, mach eine kleine Pause, bevor du weiter liest!)

Achtsamkeit ist keine Lösung für alles, aber sie schafft Raum.

Raum, um nicht automatisch zu reagieren.

Raum, um bewusst(er) zu handeln.

Raum, um in diesem wirren Netz aus Anforderungen und Prägungen - in dem wir wohl alle stecken und strampeln - ein kleines Stück Freiheit zu finden.

Ich erinnere mich an zahlreiche Phasen meines Lebens, die mich mit Karacho aus der Bahn geschleudert haben.

Die kleinen Momente, die, in denen ich innehalten konnte - diese Momente haben mich wieder aufgefangen.

Das ist mein Leben. Genau jetzt. Nicht später, nicht irgendwann, sondern jetzt.

Die Wissenschaft zeigt: Unser Gehirn ist formbar. Mit regelmäßiger Achtsamkeitspraxis stärken wir neuronale Netzwerke, die mit Selbstregulation und bewusster Entscheidungsfindung verbunden sind.¹ Zwischen Reiz und Reaktion entsteht dieser kleine Spalt – ein Moment der Wahl.

Der Buddha beschrieb dies mit der Metapher der zwei Pfeile:

Der erste Pfeil steht für den unvermeidlichen Schmerz.

Der zweite Pfeil ist das Leiden, das wir uns selbst zufügen, indem wir automatisch reagieren.

Achtsamkeit hilft uns, den zweiten Pfeil zu erkennen und abzulegen.

Illustration des ersten und des zweiten Pfeils des Buddha

Ein paar Beispiele aus der Praxis:

Der Streit, der keiner wurde

Eine Teilnehmerin erzählte mir kürzlich eine Geschichte, die mich sehr froh gestimmt hat. Sie und ihr Partner hatten oft Streit, und diese Auseinandersetzungen verliefen nach einem vertrauten Muster: Sie verletzten sich gegenseitig mit Worten, bis der Abend für beide ruiniert war.

Doch eines Tages, mitten im Streit, hielt sie inne.

„Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich wieder kurz davor war, etwas zu sagen, das ich später bereuen würde“, erzählte sie.

„Ich atmete tief ein, spürte die Anspannung in meinem Körper und sagte einfach: ‚Lass uns kurz Pause machen.‘ Zum ersten Mal redeten wir danach wirklich konstruktiv miteinander – ohne Schuldzuweisungen.“

Achtsamkeit im Elternsein

Ein Vater berichtete im Kurs, wie Achtsamkeit ihm half, mit den Wutanfällen seiner kleinen Tochter umzugehen. Früher habe er selbst die Beherrschung verloren, sagte er, und die Situation sei immer weiter eskaliert.

Doch eines Tages, nach einem besonders intensiven Gefühlsausbruch seiner Tochter, setzte er sich zu ihr auf den Boden, atmete ein paar Mal tief durch und sagte: „Ich weiß, dass du gerade wütend bist. Ich bin auch wütend. Aber wir können beide lernen, uns wieder zu beruhigen.“

Für ihn war es ein Schlüsselmoment: „Ich habe verstanden, dass ich ihr nur helfen kann, wenn ich selbst ruhig bleibe. Aber früher ist mir das einfach nicht gelungen, ganz gleich, wie viele Elternratgeber ich schon gelesen habe.“

Achtsamkeit in der professionellen Selbstfürsorge

Eine Therapeutin, die regelmäßig mit Menschen in emotional belastenden Situationen arbeitet, erklärte mir, wie Achtsamkeit ihr hilft, sowohl für sich selbst als auch für ihre Klient/innen besser zu sorgen.

„Früher bin ich nach einer schwierigen Sitzung oft noch stundenlang gedanklich bei meinem Patienten geblieben.“

Nach ihren Erfahrungen im MBSR-Kurs hat sie kurzerhand die Pausen zwischen den Sitzungen auf eine Viertelstunde verlängert. Nach jeder Sitzung setzt sie sich erstmal hin, spürt ihren Atem und lenkt ihre Aufmerksamkeit bewusst auf die Empfindungen in ihrem Körper. „Es ist, als würde ich mich selbst wieder einsammeln. Dadurch bleibe ich präsent und klar – und kann wieder besser für meine Klientinnen und Klienten da sein.“

Achtsamkeit und ADHS

Ein Teilnehmer mit ADHS hatte in der Verhaltenstherapie Wochenpläne und Organisationssysteme erarbeitet, scheiterte aber an der Umsetzung in seinem Alltag als Selbständiger.

Durch die tägliche Achtsamkeitspraxis während des MBSR-Kurses lernte er, im Autopilot besser innezuhalten. (Der Autopilot tritt bei Menschen mit ADHS oft besonders stark auf.) Es entstanden Momente, in denen er sich bewusst entscheiden konnte: „Ich mache das jetzt anders.“

Achtsamkeit war für ihn die Brücke zwischen Theorie und Anwendung.

Über den Alltag hinaus

Achtsamkeit ist keine Wunderlösung (das muss ich hier wirklich nochmal betonen!), aber sie ist eine Schlüsselkompetenz.

Sie ist eine stabile Grundlage, auf der wir viele anderen Fähigkeiten aufbauen können – sei es Kommunikation, Selbstfürsorge, Fokus oder Kreativität.

Sie erinnert uns daran, dass wir nicht immer alles unter Kontrolle haben, aber dass wir immer die Wahl haben, wie wir reagieren.

Über den Jahreswechsel habe ich viele Gedichte gelesen und bin immer wieder bei den Texten der großartigen Mary Oliver gelandet. In ihrem berühmten Gedicht “Der Sommertag” endet sie mit den Worten:

Sag mir, was hast du vor

mit deinem wilden, kostbaren Leben?

Tell me, what is it you plan to do

with your one wild and precious life?

Achtsamkeit ist mehr als eine Technik.

Achtsamkeit erinnert uns auch daran, dass unser Leben wild und magisch und kostbar ist.

Für mich ist es das, was Achtsamkeit am meisten vermag: Mir die Fähigkeit zu geben, mit einem offenen Herzen und wachen Sinnen zu leben. Ob inmitten eines Streits, eines Wutanfalls, eines schwierigen Arbeitstages – oder eines Augenblicks, in dem die Sonne sanft durchs Fenster scheint und der Film für einen Moment stoppt.

Es ist immer dieser Atemzug, dieser Moment, der mich erinnert:

Das ist mein Leben. Genau jetzt.

1 Schuman-Olivier Z, et al. Mindfulness and Behavior Change. Harv Rev Psychiatry. 2020 Nov/Dec;28(6):371-394. doi: 10.1097/HRP.0000000000000277.

Suzan Wolf

Suzan Wolf ist Psychologin (M.Sc.) und zertifizierte Achtsamkeitslehrerin.
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