Wir müssen über Körper reden.

“In these bodies we will live, in these bodies we will die. Where you invest your love, you invest your life”

– Mumford and Sons

Vor einigen Jahren sprach ich mit meiner Freundin Anna, einer leidenschaftlichen Tierärztin, über ihren alten Hund Luca. Er erhielt regelmäßig physiotherapeutische Behandlungen, Wasser-Düsen-Massagen und vieles mehr zur Linderung seiner Rückenschmerzen.

Ich selbst kämpfte damals mit Rückenschmerzen und konnte kaum fassen, welchen Aufwand Anna betrieb, um die Schmerzen ihres Hundes zu lindern. Nach diesem Gespräch wurde mir bewusst, dass ich mit einem tief verankerten Glaubenssatz aufgewachsen war: Wenn ich krank bin oder Schmerzen habe, dann liegt das an mir. Dann ist etwas mit mir falsch.

Diese Überzeugung ist seitdem eingebrochen wie eine alte Mauer. Ich bin mir nämlich sicher, dass Luca, der übrigens immer noch lebt, nichts falsch gemacht hat, obwohl er an Rückenschmerzen leidet. Er ist einfach ein lebendiges Wesen mit einem alternden Körper. So wie ich. So wie wir alle.

Foto: Anna Schneider

Die Stimme der inneren Richterin

Kennst du das? Diese leise, aber hartnäckige Stimme im Kopf, die bei jeder Krankheit nach Schuldigen sucht? Die Menschen, die von Krankheit oder Schmerzen berichten, insgeheim verantwortlich macht?

Mein Gehirn jedenfalls serviert mir in solchen Momenten blitzschnell eine glasklare Erklärung:

Kopfschmerzen? Zu wenig Pausen gemacht.
Rückenschmerzen? Zu viel am Schreibtisch gesessen.
Erkältung? Zu wenig Obst gegessen.
Übergewicht? Zu wenig Selbstdisziplin.
Sportverletzung? Zu wenig gedehnt.
Schlafprobleme? Zu viel Zeit am Smartphone verbracht.

Diese Gedanken sind keine zufälligen Vorwürfe. Sie sind das Produkt einer Kultur, die uns einredet, dass wir unsere Gesundheit vollständig selbst in der Hand haben.

Wir brauchen angeblich nur genug Disziplin und werden ewig leben. (?!)

Longevity-Podcasts suggerieren, dass wir uns mit bestimmten Sportprogrammen und den richtigen Supplementen bis zu unserem überdurchschnittlich späten Lebensende bester Gesundheit erfreuen können. Als wäre Krankheit eine persönliche Niederlage und Gesundheit eine Frage der Disziplin.

Meine Oma hatte sich mit Mitte achtzig noch schlecht gefühlt, weil sie mit ihren Freundinnen nicht mehr mithalten konnte.

„Die Gerti ist über neunzig, lebt noch alleine und ist wirklich sehr gut zu Fuß”, bemerkte sie oft, während sie ihre eigenen, vielfältigen gesundheitlichen Einschränkungen aufzählte. Sie blendete völlig aus, dass die meisten ihrer anderen Freundinnen seit Jahren oder schon Jahrzehnten nicht mehr am Leben waren. Dass es normal ist, mit Mitte achtzig nicht mehr ohne Unterstützung zurechtzukommen. Dass wir alle ein Verfallsdatum haben.

Verdammt, es ist auch ganz normal, mit Mitte 30 nicht mehr ohne Unterstützung zurechtzukommen oder mit Anfang 20 zu sterben. Wir verdrängen diese Schicksale einfach nur!

Meine Freundin Isabell hat nach ihrer Brustkrebsdiagnose zu mir gesagt: „Ich muss jetzt lernen zu akzeptieren, dass ich alles richtig gemacht habe – mich gesund ernährt, Sport gemacht, Stress bewältigt – und trotzdem Krebs habe.”

Wir haben kein Recht darauf, gesund zur Welt zu kommen, und wir haben kein Recht darauf, gesund zu sterben.

Fast jeder Mensch, den ich kenne, hat selbst eine gesundheitliche Tragödie erlebt, erlebt sie gerade oder hat im nahen Umfeld eine solche miterlebt. Eine Fehlgeburt. Eine Krebsdiagnose. Komplikationen bei einer Routineoperation. Eine chronische Erkrankung. Ein Unfall.

Wir müssen und dürfen Krankheit von Körper und Geist nicht persönlich nehmen.

Krankheit und Gesundheit sind moralisch neutral. Du bist kein besserer oder schlechterer Mensch, weil du körperlich oder seelisch gesund oder krank bist. Es haben nicht alle anderen etwas richtig gemacht, weil sie gesund sind, oder etwas falsch gemacht, weil sie krank sind.

Das Wunder ist nicht, gesund zu leben, sondern überhaupt am Leben zu sein

Jon Kabat-Zinn, der Begründer des MBSR-Programms, sagt: “Solange du atmest, ist viel mehr richtig mit dir als falsch, egal, was auch immer ‘falsch’ läuft.”

Es ist ein Wunder, dass wir existieren. Dass unser Herz schlägt, dass unsere Lunge atmet. Dass wir in diesem Moment hier sind.

Doch statt dieses Wunder zu würdigen, behandeln wir unseren Körper (und unseren Geist) oft wie eine Maschine, die wir optimieren müssen. Ich wünsche mir für uns ein neues Verständnis von Körpern und Gesundheit, das uns von dem sozialen Gefühl der Scham erlöst.

Dann können wir uns in Krankheit gegenseitig halten, gemeinsam trauern, gemeinsam wüten und aus ganzem Herzen sagen “Es ist so so so schwer.”

Dann könnten wir in den freudvollen Momenten die Fülle unseres Lebens in Frieden mit unserem (unperfekten) Körper genießen; in Gesundheit und in Krankheit.

Das Gelassenheitsgebet bringt es auf den Punkt: “Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.”

Diese Weisheit finde ich manchmal, oder vor allem, in schwierigen Momenten.

Die goldenen Narben des Lebens

Mein Sohn weigert sich, Pflaster oder Salben auf seinen Schürfwunden zu akzeptieren. Bei den ersten Kratzern hat es mir wehgetan, diese “Makel” auf der perfekten Kinderhaut zu sehen. “Ich möchte keine Creme! Mein Körper kann das ganz alleine heilen”, sagt er bestimmt.

Sein Körper hat inzwischen schon viele Narben, besonders an den Knien. Und ich habe gelernt, sie mit anderen Augen zu sehen – wie die zerbrochenen Vasen in Japan, deren Risse nicht versteckt, sondern mit Gold gekittet werden. Diese jahrhundertealte Kunst des Kintsugi lehrt uns: Gerade unsere Brüche und Narben machen uns einzigartig und wertvoll.

Wir sind “zerbrochen und doch ganz”, wie der MBSR-Lehrer Saki Santorelli es ausdrückt. In dieser Wahrheit liegt nicht nur Trost, sondern auch eine tiefe Schönheit.

Wie Luca, der trotz seiner Schmerzen einfach ein normaler Hund ist. Wie Isabell, die trotz ihrer Diagnose einfach sie selbst war. Wie wir alle, die wir in diesen unvollkommenen Körpern leben, lieben und eines Tages sterben werden.

Suzan Wolf

Suzan Wolf ist Psychologin (M.Sc.) und zertifizierte Achtsamkeitslehrerin.
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