Achtsam unterwegs mit der S3
Bahnfahren spaltet die Geister. Bei den einen wecken der miefig-mechanische Geruch der Bahnhöfe und der Anblick eines vorbei rauschenden ICEs Begeisterung. Andere denken sofort an Bahnstreiks, verdreckte Bahnhofstoiletten und subtropische Zugabteile.
Für mich ist Bahnfahren eine Praxis.
Montag, 15:45 Uhr.
Ich sitze im viel zu klein bemessenen Fahrradabteil der S3 Richtung Mannheim. Ein beißender Uringeruch von der benachbarten Zugtoilette erfüllt die Luft, durchmischt mit der Alkoholfahne eines Mitreisenden. Der Zug steht am Heidelberger Hauptbahnhof.
„Sehr geehrte Fahrgäste, die Strecke Richtung Mannheim ist vorerst gesperrt.“
Der Lokführer macht kein Geheimnis daraus, dass er genervt ist. Es befinden sich Personen auf den Gleisen. Ein kollektives Stöhnen geht durch die Reihen der Mitreisenden.
Ein älterer Herr reagiert empört: „Wie immer unzuverlässig, die Bahn“, schnaubt er. Ich erkenne den Anflug eines tief im Menschen verankerten Impulses: den Kampf – eine Reaktion auf Bedrohung.
Andere reagieren besorgt – was passiert da auf der Strecke? Auch Angst, die auf Unsicherheit folgt, ist tief in uns als Fluchtreflex verankert.
Ein Mitreisender mit Fahrrad scheint nicht zu wissen, ob er noch schnell aussteigen oder lieber sitzen bleiben soll. Mir geht es ähnlich, und ich erinnere mich, dass auch diese Starre und Handlungsunfähigkeit eine Reaktion meines autonomen Nervensystems ist.
Ich werfe dem Mann einen verständnisvollen Blick zu. Auch die Suche nach zwischenmenschlichem Kontakt in Krisen ist eine automatische Stressreaktion.
Ich entscheide mich, sitzen zu bleiben. Während ich warte, denke ich darüber nach, was Zugfahren für mich bedeutet.
Jede Fahrt ist zunächst ein Spiegel dessen, wie es mir gerade geht.
Manchmal schnellt mein Puls schon beim Einsteigen in die Höhe, wenn ich keinen Platz für mein Fahrrad sehe. Manchmal bleibt er ruhig, selbst wenn der Zug mitten auf der Strecke auf unbestimmte Zeit stehen bleibt.
An heißen Tagen schwitzen wir Fahrgäste kollektiv, und der Schweißgeruch bringt mich an meine körperlichen Grenzen. An manchen Tagen genieße ich die Aussicht, an anderen fahre ich mit Ohrstöpseln und Sonnenbrille, weil die lauten Geräusche und das grelle Neonlicht mir zu viel sind.
Es gibt Bahnfahrten, bei denen Wut aufkommt. Eine gute, gemeinschaftliche Wut, weil nicht nur ich mit meinem schweren Rad bei einem plötzlichen Gleiswechsel ein Problem habe, sondern auch alle, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder auf Hilfsmittel angewiesen. Weil nicht nur ich einen Aufzug brauche oder eine verlässliche Anzeige oder eine sichere Unterführung – sondern wir alle. Es ist eine Wut, die verbindet, die dringlich ist und Veränderung fordert.
Wenn ich in der S3 sitze, habe ich das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Und das nicht nur auf eine rosarot-kitschige Weise – aber auch.
Jede Fahrt ist auch ein Brennglas, eine Linse, durch die sich die Welt offenbart.
Da war der alte, etwas verwirrte Mann, der mich für eine Krankenschwester hielt und mir kurzerhand seine verwundeten, schwieligen Waden zur Begutachtung zeigte. "Muss ich damit zum Arzt gehen?", fragte er. Ich nicke und helfe ihm die Treppen neben dem Bahnhof nach unten.
Oder die Dame im wuchtigen E-Rollstuhl, die nur mit Schwung und einem heftigen Rumpeln über die Schwelle in den Zug gelangte. "Ich muss mit dem Zug zum Supermarkt fahren!", erzählt sie mir. Die Straßenbahnverbindung wäre zwar viel schneller, ist aber nicht barrierefrei. Als ich mit dem Fahrrad aussteigen musste, rückte sie extra zur Seite und schaute mir beim Abschied in die Augen.
Einmal saß mir im Fahrradabteil ein Mann mit zitternden Händen gegenüber. Hinter ihm entdecke ich plötzlich durch das Fenster im Sonnenuntergang einen Heißluftballon. Es sieht magisch aus, wie über den weiten Feldern schwebt. Der Mann bemerkt meinen Blick und entdeckte ebenfalls den Ballon. Auch er lächelt. Ein weiterer kostbarer Moment der Verbundenheit.
Ich habe vieler solcher Augenblicke voller Menschlichkeit erlebt – und andere, in denen Zweifel an unserer Gattung aufkommen.
Immer wieder stolpere ich unfreiwillig in eine Art Reality-TV-Episode, mit kostümierten Fahrgästen, die laut die Bühne einnehmen. Ich werde zur stummen Komparsin, während sich ein Familiendrama oder eine Ehekrise abspielt. In solchen Momenten denke ich an Shakespeares Macbeth, an die Bühne des Lebens – ein kurzes Schauspiel voller Lärm und Wut, erzählt von einem Irren.
Ich beobachte die Urteile, die automatisch bei mir auftauchen. Schmunzle darüber, wie meine Gedanken die Menschen in Schubladen stecken, Lösungen für vermeintlich einfache Probleme vorschlagen. Gleichzeitig merke ich, dass dieses „Theater“ Unbehagen in mir auslöst.
Dann genieße ich wieder Momente der Mitfreude. Zwei Kinder spielen Händeklatschen mit einer zuvor fremden Frau – die Kinder sprechen kein Deutsch, was ihr Spiel in keiner Weise beeinträchtigt.
Ich lausche gerne den Gesprächen anderer Menschen, tauche für einen Moment in ihre Freuden und Sorgen ein. Bekannte, die sich zufällig im Zug treffen, Arbeitskollegen, die dem Feierabend entgegenfiebern, Großeltern mit ihren Enkeln.
15:55 Uhr.
Der Zug fährt weiter, die Strecke ist wieder frei.
Erleichterung breitet sich im Abteil aus. Der Lokführer macht eine witzige Durchsage. Wir rücken noch enger zusammen, damit alle, die nun wieder einsteigen möchten, Platz finden.
Wenn ich in die S3 einsteige, weiß ich nie, was mich erwartet. Ich habe ein Ziel vor Augen, doch ob ich rechtzeitig – oder überhaupt – dort ankomme, ist ungewiss. Wenn ich aussteige, bin ich nicht dieselbe Person, die eingestiegen ist. Oft steige ich dankbarer aus, manchmal wegen der Verbundenheit mit meinen Mitreisenden, manchmal einfach nur, weil ich überhaupt angekommen bin.
Für mich bedeutet Achtsamkeit, sich mit allem anzufreunden – mit mir selbst, mit anderen und mit dem Leben an sich. Die stille Meditation ist das Training, die Fahrt in der S3 ist die Kür.
(Diesen Text habe ich in der S3 geschrieben.)
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