Achtsamkeit für langweilige Alltagsmomente
„Siehst du, Momo“, sagte er [Beppo] dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.“
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.“
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“aus
Auszug aus der Jubiläumsedition Momo. Ein Bilderbuch. (Michael Ende, illustriert von Simona Ceccarelli), 2023 Thienemann Verlag
Ein zentraler Bestandteil des Zen Buddhismus ist die Achtsamkeit bei alltäglichen Aufgaben. Beim Gehen, beim Tee trinken, beim Abspülen, beim Putzen.
Ehrlich gesagt war das lange kein Fokus meiner eigenen Praxis. Achtsam eine leckere Mahlzeit oder die Natur genießen? Sehr gerne. Achtsam das Klo putzen? Musste nicht sein.
Auf Retreats habe ich im Rahmen der häuslichen Mitarbeit mit großer Freude Meditationsmatten zusammengenäht. Stich für Stich mit der großen Nadel durch den dicken Kokosfaserkern und die weiche Schafswolle. Und mich dabei liebend gerne in Gedanken verloren.
Irgendwo in meinem Geist saß die tiefe Überzeugung, dass die "wahre" Praxis das Sitzen auf der Matte ist, nicht das Nähen der Matte. Dass die wahre Praxis in Stille stattfindet und auf die schwierigen und die schönen Momente im Alltag abfärben darf. Aber in den durchschnittlichen, alltäglichen, oft langweiligen Momenten meines Alltags war oft Achtsamkeitspause!
Und dann kam mein Sohn zur Welt.
Und auf einmal wurde die Zeit in Stille ein riesiges Privileg. Heute - bald zwei Jahre später - kehre ich jeden Abend, wenn alle im Bett sind, mit einem Besen die Krümel auf unserem Fußboden zusammen. Ganz langsam und bedacht. Diese zehn Minuten sind mir heilig. Immer noch, obwohl ich inzwischen wieder mehr Zeit für mich habe. "Schritt, Atemzug, Besenstrich.", wie Beppo sagt.
Und nach dem Durchfegen bin ich erstaunt, was da nach einem Tag schon wieder zusammengekommen ist! Und auch stolz, zentriert und bereit, den Tag loszulassen.
What stands in the way becomes the way.
Momo haben wir in der sechsten Klasse im Schultheater aufgeführt. Unser Beppo von damals ist heute Feuerwehrmann; Momo hat soziale Arbeit und Psychologie studiert. Ich hatte mich nicht getraut, eine Rolle zu übernehmen, und stattdessen in der Maske den grauen Herren weiße Farbe ins Gesicht geschmiert. Anscheinend ist trotzdem etwas hängen geblieben aus dieser Zeit, denn ich denke oft an Momo als achtsame Zuhörerin und Beppo als inkognito Zen-Meister.
Und ich weiß heute mit jeder Faser meiner Seele, dass wir uns bei wirklich jeder Tätigkeit achtsam zentrieren können, ob beim Gehen im Wald oder beim Klo putzen (oder mein verhasstes Äquivalent: den Abfluss in der Dusche reinigen...) oder wenn wir krank sind, oder wenn die Waschmaschine übergelaufen ist oder wenn wir eigentlich keine Lust haben, zum tausendsten Mal den Schmuddel unserer Kinder, Tiere, Partnerinnen, Mitbewohner, Nachbarn oder einfach unseren eigenen Dreck zu beseitigen.
Und ich habe besser verinnerlicht, dass für geschätzte 96% der Weltbevölkerung Auszeiten in äußerlicher Stille ein unerreichbarer Luxus sind. Oder Auszeiten überhaupt. Aber dass die Achtsamkeitspraxis wirklich für jeden da ist, ganz egal, wie viel Freiraum und Stille der Alltag gerade für uns bereit hält.
Magst du mitmachen beim der durchschnittlichen Alltags-Achtsamkeit?
Welche Tätigkeit steht bei dir an, auf die du eigentlich keine Lust hast? Die dich vielleicht vom Meditieren "abhält"? Abspülen? Rasen mähen? Wäsche waschen?
Mit freundlicher Achtsamkeit darf genau diese Tätigkeit dir helfen, dich zu zentrieren und bewusst im Hier und Jetzt zu landen. Und es macht achtsam viel mehr Spaß, versprochen!