Im Fallen üben wir das Halten

Ich schreibe die erste Version dieser Stillen Post im Flieger, mit einem wattig-weichen Gehirn. Zu viele Eindrücke. Zu wenig Schlaf. Die Erfahrungen der letzten Wochen setzen sich hier oben langsam, wie Flocken in einer Schneekugel.

"Das Mont Blanc Massiv liegt direkt unter uns", sagt der Pilot. Durch das Fenster gleiten die Berge unter mir vorbei, die weißen Gipfel leuchten hell in der Nachmittagssonne. Ich kann meinen Blick kaum vom Fenster lösen.

Von hier oben sehe ich die Erde in ihrer ganzen Schönheit. Ich liebe diesen Planeten so sehr, dass es weh tut. Und gleichzeitig ist da: Sorge.

Das Mont Blanc Massiv direkt unter mir.

Diese Sorge trug ich schon mit mir, als ich eine Woche zuvor die Jubiläumskonferenz des MSBR-MBCT-Verbands besuchte.

Am Ende des ersten Konferenztages saß ich in Stille mit 250 Achtsamkeitslehrenden im Festsaal der Berliner Stadtmission. Wir versuchten, uns eine positive Vision der Welt in dreißig Jahren vorzustellen.

Ich schloss die Augen, konzentrierte mich und dachte in die Zukunft.

Und da war… gar nichts. Als ob ich in einen Nebel schauen würde.

Es wollten einfach keine Bilder kommen.

Das Jahr 2055 — ein großes Fragezeichen.

Ich versuchte, mir meinen Sohn als Erwachsenen vorzustellen. Was für ein Leben kann er dann noch führen auf diesem Planeten?

Was wünsche ich ihm?

Langsam tauchten zarte Bilder auf. Wie er Gemüse im Garten erntet, saubere Luft atmet und den Vogelstimmen lauscht - in einer Welt, in der Frieden mehr zählt als Komfort.

In der folgenden Gesprächsrunde saß mir eine Frau gegenüber; sie schwieg lange, bevor sie sprach. Tränen sammelten sich in den hellblauen Augen und fielen nicht. In der nächsten Runde schaute ich in dunkle, schelmisch zwinkernde Augen; ein gemeinsames Lachen erleichterte die Schwere. Ein anderer Mann sprach schnell, aber ich spürte das Gewicht seiner Worte in meinem eigenen Körper.

Als ich am Ende der Übung durch die Reihen der Menschen im Saal schaute, wurde mir klar:

Was zu schwer ist für einen Menschen, können viele halten.

Die Krisen spiegeln sich in uns allen unterschiedlich und hier begegneten wir uns in unseren Fragen, nicht in unseren Antworten.

An diesem Abend, zurück im Hotel, konnte ich trotzdem nur schwer einschlafen. Zu groß war die lähmende Taubheit, die nicht mal lustige Kurzvideos im Internet durchdringen konnten. Ich beobachtete, wie mein Geist immer wieder Ablenkung suchte - und nicht fand. Zu laut war die Stimme in meinem Kopf, die darauf bestand, dass doch alles hoffnungslos ist.

Am nächsten Tag sitze ich wieder im Festsaal. Jamie Bristow ist live für eine Keynote zugeschaltet.

„Der Kollaps”, sagt er, „ist unvermeidlich.”¹

Der Boden verschwindet unter mir.

Mein Herz setzt aus und ich

falle

falle

falle

in die Tiefe

und durch alle Gewissheiten hindurch.

Und irgendwann wird das Fallen leichter. Leichter zumindest, als ängstlich am Rand zu stehen und in den Abgrund zu blicken.

Meine Stirnfalte löst sich und meine Augen werden weicher, während ich Jamie weiter zuhöre.

Im Fallen übe ich das Halten.

Was, wenn es schon längst darum geht, uns diese Frage zu stellen:

Wie wollen wir durch den kommenden Kollaps gehen?

Nicht wie wir ihn verhindern, sondern wie wir ihm begegnen.

Am Ende der Konferenz sprach Ärztin und Zen-Priesterin Friederike Boissevain über ihre Arbeit im Hospiz. Dort geht es im Kern darum, den “Kollaps” eines Lebens zu halten. Das Globale spiegelt sich im Einzelnen.

Wenn hilfreiche Worte längst fehl am Platz sind. Wenn alte Konflikte nicht mehr gelöst werden können. Wenn die Krankheit bleibt.

Dann geht es nicht mehr ums Handeln.

Nur noch ums Dasein.

Sich als Menschen zu begegnen.

Boissevain erzählte von einer Patientin. Die Laborergebnisse waren vernichtend. Aber sie sprachen nicht darüber. Sie sprachen darüber, ob man am Ende des Lebens noch Vitamine zu sich nehmen muss.

Ja — muss man das?

Sie erzählte auch von Menschen, die bis zum letzten Atemzug jeden übrigen Moment genießen können, und von anderen, die das nicht können.

Während sie sprach, spürte ich etwas in mir stiller werden. Klarer. Und demütiger.

Diese Haltung - das Dasein, das Sein lassen - brauchen wir auch, um dem kollektiven Sterben zu begegnen: den Jahreszeiten, die wir kaum wieder erkennen, dem Rückgang der Artenvielfalt vor unserer Haustür, dem Verlust der vertrauten politischen Sicherheit.

Die kürzlich verstorbene buddhistische Aktivistin Joanna Macy sagte: “Wir beginnen, wie aus einem jahrtausendelangen Schlaf zu einer ganz neuen Beziehung zu unserer Welt, zu uns selbst und zueinander aufzuwachen.”

Ich sehe das überall: Menschen, die aufwachen. Die anders leben wollen und wirklich etwas verändern. Gleichzeitig höre ich immer noch die Stimme in mir, die sagt: Es reicht nicht. Es reicht einfach nicht.

Und dann denke ich an Menschen, die trotzdem springen, so wie Stefanie Hammer. Sie gründete das Achtsamkeitsmagazin “Moment by Moment” als junge Mutter, setzte ihr gesamtes Erspartes ein - und wagte es kaum, ihrem Umfeld davon zu erzählen, um den kleinen Keim nicht zu ersticken.

Würde sie es wieder tun? Sie lachte: “Nein, dafür bin ich jetzt zu alt.” Dann, nach einer Pause: “Aber wenn es das Magazin nicht mehr gäbe… wahrscheinlich würde ich wieder springen.”

Auch sie kennt das Fallen - und hat Vertrauen, dass der Sprung trägt.

Im Fallen üben wir das Halten.

Wenn wir alle bei uns selbst anfangen, unsere Muster hinterfragen und aus der Komfortzone gehen - aber uns ebenso erlauben, dass “gut genug” manchmal ausreicht - dann würde sich immens viel verändern.

Ich gehe beschwingt aus dem Raum, innerlich zähle ich die Sprungbretter in meinem eigenen Leben.

Ein paar Tage nach den ersten Zeilen im Flieger, wieder zu Hause, wieder auf der Erdoberfläche, knipse ich abends die Nachtlampe aus und öffne mein Fenster, um frische Luft hereinzulassen.

Die Lichter des glasklaren Sternenhimmels schlagen mir entgegen. Ich taste nach meiner Brille, lege mich falsch herum aufs Bett und starre nach oben.

Ein Flugzeug, rot-weiß blinkend, zieht vorbei. In die nächtliche Stille mischt sich sein fernes Motorenrauschen.


¹ Später werde ich mich erinnern, dass er in Nuancen sprach, von Denkfabriken, von Prognosen, von autoritären Systemen und internationaler Zusammenarbeit, von ökologischer Komplexität. Aber in diesem Moment hörte ich nur: unvermeidlich.


Wer mich auf der Konferenz u. a. inspiriert hat:

💡 Jamie Bristow
Gründer der Contemplative Policy and Practice Initiative, arbeitet daran, kontemplative Praktiken in politische Entscheidungsprozesse zu bringen. Wenn du seinen Ansatz zwischen Optimismus und Hoffnungslosigkeit besser verstehen willst, empfehle ich diesen Artikel.​

💡 Dr. Dr. Friederike Boissevain (M.Sc.)
Ärztin, Soto-Zen-Priesterin, Hospizleiterin. Wenn du dich von ihr inspirieren lassen möchtest, empfehle ich dir erstmal dieses kurze Interview mit ihr und dann ihr Buch "Blüten fallen".​

💡 Joanna Macy, Ph.D.
War Ökophilosophin, Aktivistin, Gelehrte für Buddhismus und in Systemwissenschaften. Wenn du mehr über ihren Ansatz wissen möchtest, empfehle ich dir dieses Interview.​

💡 Stefanie Hammer
Gründerin und Chefredakteurin des Achtsamkeitsmagazins Moment by Moment. Hier kannst du sie in einem Podcast-Interview hören (ab Minute 30:00).

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Ein Gespräch über Neurodiversität und Achtsamkeit